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Frohe Weihnachten … für Mensch und Tier?

Lucas Cranach (der Ältere), Ruhe auf der Flucht nach Ägypten; © Foto: Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin; Fotograf: Volker-H. Schneider

Ende Juni – noch lange vor Weihnachten – hatten wir uns nach drei Monaten selbstverordneter Corona-Vorsichtsquarantäne einen Ruck gegeben und, ausgestattet mit Maske und Desinfektionsmittel, in Allerherrgottsfrühe an einem Wochentag der Gemäldegalerie in Berlin einen Besuch abgestattet. Es war eine Wohltat, sich in den nahezu leeren Riesensälen des Museums frei zu bewegen und mal wieder etwas anderes zu sehen als die eigenen vier Wände. Irgendwann landeten wir vor dem 1505 entstandenen Gemälde „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ von Lucas Cranach. Das Bild zeigt ein Thema aus dem Matthäusevangelium: Maria, Josef und das Jesuskind rasten in einer idyllischen Landschaft mit verspielten und musizierenden Kinderengeln, die Erdbeeren reichen und Wasser schöpfen.[1] Bei dem Anblick wurde mir schlecht. Ich dachte an Moria – das massiv überbelegte Lager auf Lesbos, in dem Geflüchtete an der EU-Grenze ausharren müssen. „Lass uns weitergehen.“, sagte ich zu meinem Mann. „Ich kann das nicht mehr sehen.“ 

Die Ruhe auf der Flucht nach Europa

© Foto: Isabel Schayani; Verwendung mit freundlicher Genehmigung der Fotografin.

Ungefähr zweieinhalb Monate nach dem Museumsbesuch brannte am 9. September Moria fast vollständig nieder. Für die obdachlosen Geflüchteten wurde innerhalb weniger Tage das neue Lager Kara Tepe errichtet. Am 13. September postete die Journalistin Isabel Schayani auf Twitter das Bild einer Geflüchteten mit ihrem Neugeborenem auf dem Arm. Darunter stand:

„Ihr Baby Hussam ist 21 Tage alt. Sie will freiwillig als erste heute früh ins geschlossene Camp. Hussam ist krank, sagt sie. ‚Ich will zu meinem Sohn in Finnland. Er ist seelisch krank. Der Krieg hat uns zerstört.‘ #Moria[2]

Und da rastete ich aus. Wo kam dieser Stacheldraht her? Wo waren die Engel, die dem Baby Erdbeeren reichten und Wasser schöpften? Wo war die Musik, das saftige Grün, die Aureole um den Kopf der frischgebackenen Mutter auf der Flucht? Wo war die Ruhe? Wo? Wie konnte es sein, dass dieses Lager seit Monaten immer noch nicht entlastet wurde? Wie konnte es sein, dass Europa seine eigenen Werte mit Füßen trat?  

Ich möchte Fotos von untergehenden Booten, weinenden Kindern, die ihre Eltern auf der Flucht verloren haben, Ertrunkenen, die an die Küsten des Mittelmeers gespült wurden, Müttern, die verzweifelt an Stacheldrahtzäunen in Geflüchtetencamps ausharren, mit „Ruhe auf der Flucht nach Europa“ betiteln und allen Europäer*innen vor die Nase halten. Vielleicht brauchen wir solche Bilder in Museen, damit diese Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen Europas nicht untergehen? Vielleicht sollen Bilder wie von dieser Mutter und Alan Kurdi im Kunstunterricht besprochen werden? Würde sich dann vielleicht etwas ändern? Würde sich Europa dann um Camps wie Moria und Kara Tepe kümmern? Würden dann europäische Länder auch ihr Mitgefühl öffentlich kundtun und „Je suis Kara Tepe!“ rufen?

Das bezweifle ich, denn zeitgleich treffen Politiker*innen Aussagen wie: „Wir brauchen erstmal eine europäische Lösung!“, „Wir müssen auch an den Pull-Faktor denken!“ oder wir hätten bereits unser Limit am konkreten Beispiel praktizierter Nächstenliebe erreicht. Bei solchen Äußerungen frage ich mich immer: Wisst ihr eigentlich, was es heißt, vorm Krieg wegzulaufen? Ich erinnere mich an einen bosnischen Freund, der jede Nacht schreiend aus dem Schlaf aufwachte, weil er immer die Gesichter der Menschen sah, die er als Minderjähriger in den 90ern erschoss, um nicht selbst ermordet zu werden. Kann sich das irgendjemand nur ansatzweise vorstellen, der diese Gräuel nicht erlebt hat? Ich kann es nicht!

„Die haben hier Hunger!“

Am selben Abend des 13. September berichtete Isabel Schayani bei Anne Will live aus Lesbos. „Die haben Hunger!“ sagte sie in die Kamera, „Die haben hier Hunger!“[3] Mein Magen verkrampfte sich. Menschen standen stundenlang Schlange für Wasser und ein paar Eier, die niemals genug für die ganze Familie waren. Was passierte da? War das ein Abschreckungsmechanismus? „Kommt ja nicht nach Europa, wir lassen euch hier verhungern!“ Verstand ich das richtig? Europa war nicht in der Lage, die Nahrungsversorgung für gut 10.000 Menschen zu gewährleisten? Ehrlich?

Wisst ihr, was es bedeutet, täglich zu hungern? Das letzte Mal, als ich richtig Hunger verspürt habe, war ich noch im Studium. Ich hatte zwei Tage nichts gegessen, war total pleite und hatte nichts mehr im Haus, was ich hätte verkaufen können. Am Abend des dritten Tags lief ich wie ein Zombie herum und sah auf dem Sitz einer Bushaltestelle ein halb gegessenes, belegtes Brötchen. Als niemand hinsah, schnappte ich es mir und lief zur nächsten Straßenecke. Ich verschlang es und in dem Moment war es das leckerste, was ich je in meinem Leben gegessen hatte. Es war mit Schinken belegt und als Moslem und Vegetarier fand ich es eklig, trotzdem habe ich es verschlungen. Jetzt, 2020, habe ich hier einen Tisch mit Adventsschmuck, und etlichen Kekssorten und mehr als genug zu essen in meinem Kühlschrank. Und ich kann mir nicht mal annähernd vorstellen, was es bedeutet, ständig an Hunger zu leiden. Ihr?

Europäischer Tierschutz

Nun sind wieder drei Monate vergangen. Ständig tauchen grauenhafte Nachrichten in den sozialen Medien auf, dass Corona in Kara Tepe grassiert, es nie genug Essen gibt, beim Regen der Boden aufweicht und die Zelte wegspült. Nachts sind es fünf, sechs Grad, es gibt kein Licht, keine Heizung und die Suizidversuche nehmen stark zu.[4] Die Psychologin Katrin Glatz-Brubakk von Ärzte ohne Grenzen berichtet von Kleinkindern, die sich in völliger Angst selbst verletzen und den Lebensmut verloren haben – und verzweifelt nicht an ihrer immens wichtigen Arbeit: „Wenn man ein Kind überzeugen kann, doch weiter zu leben, obwohl es Pläne hat, sich umzubringen, macht das Mut zum Weitermachen“[5] Und jetzt ist Weihnachten, das Fest der christlichen Nächstenliebe. Zeit für Briefe an den Weihnachtsmann – oder an Europa, wie der offene Weihnachtsbrief der Geflüchteten aus Kara Tepe:

„Oft lesen und hören wir, dass wir in diesen Lagern wie Tiere leben müssen, aber wir denken, dass das nicht stimmt. Wir haben die Gesetze zum Schutz der Tiere in Europa studiert und wir haben herausgefunden, dass sogar sie mehr Rechte haben als wir. Jedes Tier sollte diese Rechte haben:

  • Freiheit von Hunger oder Durst
  • Freiheit von Unbehagen durch Bereitstellung einer angemessenen Umgebung, einschließlich eines Unterschlupfs und eines bequemen Ruhebereichs
  • Freiheit von Schmerzen, Verletzungen oder Krankheiten durch Vorbeugung oder schnelle Diagnose und Behandlung
  • Freiheit, (die meisten) Regungen und ein normales Verhalten zeigen und leben zu können durch die Bereitstellung von ausreichend Platz, geeigneten Einrichtungen und sozialer Gesellschaft
  • Freiheit von Angst und Bedrängnis durch Gewährleistung von Bedingungen und einer Behandlung, die psychisches Leiden vermeiden.“[6]

Herkes insan gibi yaşasın!

Wenn er mal wieder über Gott und die Welt sinnierte, sagte mein Vater immer: „Ben herkes insan gibi yaşasın istiyorum, oğlum.“ Was soviel heißt wie „Ich will, dass jeder wie ein Mensch lebt, mein Sohn“ – im Sinne von human, menschlich und mit Würde. Dieses Desaster, diese europäische Schande von Lesbos ruft mir diesen Satz jeden Tag in den Sinn. Denn: Das ist kein Albtraum, keine Naturkatastrophe, sondern von Menschenhand verursachtes Elend. Es liegt in unserer Hand, das zu ändern, weiterhin darüber zu reden, darauf aufmerksam zu machen und Druck auf die Politik auszuüben. Insbesondere als Deutsche, Europäer*innen und Personen, die das Privileg haben, sich wie Goethe „Weltenbürger*in“ nennen zu dürfen. In diesem Sinne: Ich wünsche euch allen humane Weihnachtstage ohne Hunger, eine angstfreie Zeit für eure Kinder und ein trockenes Dach überm Kopf sowie trockenen Boden unter den Füßen.

Korrektorat: Aimée Ziegler-Kraska

Illustration: Oliver Hoogvliet


[1] Für nähere Informationen zum Bild siehe auch: Schnabel, Norbert: Mehr Idylle war nie – Lucas Cranachs Gemälde „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“. 2018. URL: http://syndrome-de-stendhal.blogspot.com/2018/02/mehr-idylle-war-nie-lucas-cranachs.html (zuletzt aufgerufen am 23.12.2020).

[2] Schayani, Isabel. 2020. URL: https://twitter.com/isabelschayani/status/1305028285827551233 (zuletzt aufgerufen am 23.12.2020).

[3] Schayani, Isabel: Isabel Schayani über die Zustände auf Lesbos. 2020. In: Anne Will. URL: https://daserste.ndr.de/annewill/Isabel-Schayani-ueber-die-Zustaende-auf-Lesbos,annewill6636.html (zuletzt aufgerufen am 24.12.2020).

[4] Kögel, Annette, Lars von Tröne & Kai Müller: „Tiere haben mehr Rechte als wir“. Auf Lesbos droht tausenden Flüchtlingen ein brutaler Winter. 2020. In: Der Tagesspiegel. URL: https://www.tagesspiegel.de/politik/tiere-haben-mehr-rechte-als-wir-auf-lesbos-droht-tausenden-fluechtlingen-ein-brutaler-winter/26747522.html (zuletzt aufgerufen am 24.12.2020).

[5] Heinlein, Stefan: Psychologin über Flüchtlinge auf Lesbos. „Wir kämpfen jeden Tag um die Gesundheit der Kinder“. 2020. In: Deutschlandfunk. URL: https://www.deutschlandfunk.de/psychologin-ueber-fluechtlinge-auf-lesbos-wir-kaempfen.694.de.html?dram:article_id=489810 (zuletzt aufgerufen am 23.12.2020).

[6] Offener Brief. Weihnachtsgruß aus Moria II. 2020. URL: https://www.medico.de/moria-brief (zuletzt aufgerufen am 24.12.2020).