Da ist wieder ein ganzes Jahr vorbei und es schreit nach einer Bilanz der letzten zwölf Monate. Was soll ich sagen, 2023 war in beruflicher Hinsicht sehr erfolgreich für mich. Ich habe etliche Workshops gehalten, Texte veröffentlicht, Interviews gegeben, auf Podien gesprochen …und das ist alles irrelevant.
Was am Ende des Jahres am lautesten schreit, ist meine Überraschung über fehlendes Wissen bei vielen Kolleg*innen aus der Diversity-Branche. Ich bin nicht überrascht über fehlende Solidarität, keine Positionierung oder plötzliches Verstummen, wenn es thematisch unbequem und nicht profitabel für das eigene Image wird. Das kenne ich zu gut und gehe generell nicht mit Vertrauensvorschuss auf andere Kolleg*innen oder Bekannte zu. Ein Satz von Max Czollek fasst diesen Sachverhalt gut zusammen und hallt seit ein paar Monaten in meinem Kopf nach: „Vertrautheit bedeutet nicht gleich Ähnlichkeit.“
Ah, das jüdische Weihnachten, nicht wahr?
Was mich aber in der Tat überrascht, ist fehlendes Wissen, dessen Abwesenheit bisher anscheinend überhaupt nicht aufgefallen ist. Wie kann es sein, dass Antidiskriminierungs-Trainer*innen, die seit Jahren in Deutschland arbeiten, so wenig über Antisemitismus und jüdisches Leben wissen? Nicht jüdische Kolleg*innen haben keine Ahnung, warum Chanukka gefeiert wird, was der Unterschied zwischen Bar Mizwa und Bat Mizwa ist oder was das Kaddisch bedeutet. Viele waren nie in einer deutschen Synagoge. Das gesamte Wissen beschränkt sich auf den Holocaust im Schulunterricht.
Wenn ich als Bürger*in eines Landes schon eine historische Verantwortung habe, dass „nie wieder“ wirklich „nie wieder“ bleibt, dann sollte ich doch verdammt nochmal so viel wie möglich über jüdisches Leben und den jüdischen Glauben wissen – und erst recht als „Antidiskriminierungs-Expert*in“. Abgesehen davon, dass die meisten nicht wissen, was für einen tödlichen Bärendienst der große Reformator Martin Luther den jüdischen Menschen seiner Zeit und heute noch erwiesen hat, können viele nicht die 3-D-Regel erklären: Antisemitismus gibt es nicht erst seit paar Monaten und ein #FreePalestine oder ein Wassermelonen-Emoji sind ohne Kontext genauso wenig per se antisemitisch, wie ein Koran oder der Ausdruck „Allāhu Akbar“ nicht per se islamistisch sind.
Und was ist jetzt zu tun?
Eine Anekdote, die ich gerne zum Besten gebe, ist, wie ich begann, die Bibel zu lesen. Es war im Geschichtsunterricht in der 8. Klasse. In dem Kapitel, das wir im Lehrbuch lesen sollten, ging es um die „päpstliche Bulle“. Der Text fiel mir sehr schwer, da ich jedes dritte Wort nachschlagen musste und nicht begriff, dass mit „Bulle“ nicht das Tier gemeint war. Als meine Geschichtslehrerin mich fragte, ob ich denn die Bibel nicht gelesen habe, weil ich inhaltlich überhaupt nicht mitkam, sagte ich schnippisch: „Natürlich nicht! Ich bin Moslem! Oder haben Sie etwa den Koran gelesen?“ Sie sah mich direkt mit ihrem strengen Blick an und sagte: „Selbstverständlich! Ich muss doch wissen, was andere Bürger glauben und wonach sie leben, wenn ich sie nicht aus Versehen respektlos behandeln will.“ Das saß! Daraufhin las ich die Bibel und auch weitere heilige Schriften.
Ich habe vor dem 7. Oktober 2023 noch nie so oft Antisemitismus, Menschenrechte, Genozid, Propaganda und antimuslimischen Rassismus erklären müssen. Ich bin müde und überrascht, wie viel gefährliches Halbwissen draußen bei vielen „Expert*innen“ kursiert. Da gibt es noch viel zu lernen – aber dalli!
Korrektorat: Aimée Ziegler-Kraska
Illustration: Oliver Hoogvliet