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Safe Space für händchenhaltende Mutant*innen

für Olli

CN: Schwulenfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit, Rassismus

Januar 2020:

Mein Mann und ich laufen abends händchenhaltend nach Hause. Zwei Jugendliche kommen auf uns zu. Einer bleibt vor uns stehen und fragt unvermittelt: „Entschuldigen Sie! Sind Sie ein Paar?“

Wir beide: „Ja, sind wir.“

Er: „Und lieben Sie sich?“

Wir: „Ja!“

Er: „Und haben Sie es sich auch schon bereits gegenseitig gegeben?“

Bevor wir antworten können, rennen sie lachend weg.

August 2020:

Wir laufen händchenhaltend auf dem Gehweg. Eine Fahrradfahrerin guckt uns ein paar Mal auf die Hände und wirft uns böse Blicke zu. Dann sagt sie: „Schlechtes Vorbild für Kinder!“ und düst davon.[1]

März 2021:

Mein Mann und ich kommen vom Einkaufen und laufen händchenhaltend nach Hause. Ein Passant guckt uns aufgebracht an und fragt: „Hey, Kollege. Bist du mit einem Mann zusammen, oder was?“

Mein Mann, höflich wie er ist, bleibt stehen und antwortet: „Ja, das ist mein Partner, mein Mann.“

„Wie?“ seine Augenbrauen knicken zornig ein und er spuckt mehr als dass er spricht: „Machst du es in den Arsch oder was?!“ Dabei vollführt er hektisch Bewegungen mit seinen Armen, die an künstliche Befruchtung bei Kühen erinnern.

Mai 2021:

Wir laufen händchenhaltend durch den Park. Mehrere Kinder zwischen 8 und 12 spielen in einem Sandkasten. Eines schaut uns an und fragt mehrere Male aufgeregt: „Sind Sie LGBTQ? Sind Sie LGBTQ?“

Wir bleiben stehen und mein Mann antwortet freundlich: „Ja, sind wir.“

Der Junge reckt seine geballte Faust nach oben und sagt: „Ich unterstütze euch …“

Wir lächeln, sagen „Danke!“ und wenden uns ab, um weiterzugehen.

Er schreit uns nach: „NICHT!“ Wir drehen uns beide verwirrt um. „Ich unterstütze euch nicht. Es ist HARAM!“ sagt er weiterhin mit schelmisch leuchtenden Augen – den Arm mit der Faust immer noch hoch erhoben.

August 2021:

Wir gehen händchenhaltend nach Hause. Vor einer Haustür stehen drei Personen. Als wir an ihnen vorbeilaufen, ruft der eine: „Ah, guck mal, Schwule! Was glaubst du, wer wen fickt?“

Januar 2022:

Wir laufen händchenhaltend auf dem Bürgersteig. Drei junge Männer kichern und tuscheln hinter uns. Plötzlich trifft etwas meinem Mann am Rücken und es knallt. Ein Silvesterböller geht hoch. Die Männer laufen grinsend an uns vorbei, während wir vor Schreck auf dem Boden kauern.

Das ist nur eine kleine Auswahl der schwulenfeindlichen Kommentare und Angriffe, die mein Mann und ich in den letzten Jahren erlebt haben. Und das nur, weil wir händchenhaltend in der Öffentlichkeit gelaufen sind. Händchenhaltend, wie jedes Paar – aber anscheinend doch ganz anders. Aber wie anders? Was genau ist daran anders als bei einem heterosexuellen Paar, das ebenfalls diese körperliche Intimität an den Tag legt, diese vertrauensvolle Ausdrucksform der Liebe, die Geborgenheit, Zugehörigkeit und Einheit impliziert?

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass keine Woche vergeht, in der in Berlin nicht ein queerfeindlicher Vorfall stattfindet.[2] Ich mag gar nicht wissen, wie es deutschlandweit steht. Wobei ich mich immer mehr frage, wie viele gleichgeschlechtliche Paare sich noch Hand in Hand auf der Straße zeigen. Sicherlich mehr als vor zehn Jahren, aber es ist beängstigend zu lesen, dass laut der Onlineumfrage der EU-Grundrechteagentur 2020 immer noch 58 % der bisexuellen und 61 % der schwulen Männer „oft“ bis „immer“ vermeiden, in der Öffentlichkeit Händchen zu halten.[3] Den Studien der Antidiskriminierungsstelle des Bundes nach finden 38 % der Befragten in Deutschland es „sehr“ oder „eher“ unangenehm, wenn zwei Männer in der Öffentlichkeit Hände halten oder sich küssen.[4] Ich frage mich, wieso?

The Magical Gay Lobby

Ich denke, viele glauben, dass wir irgendeine Art übernatürliche Kräfte haben. Als ob es ein Institut für Gifted Male Gays von Professor X gäbe, die wir alle absolviert haben. Eine Art Magical Gay Lobby. Zuschauende, mensch könnte auch von Zuneigungs- oder Zärtlichkeitszeug*innen sprechen, haben Angst, dass unsere öffentliche Intimität sie „entmännlichen“ oder „verschwulen“ könnte. Als ob unsere „Händchenhalten-Rekrutiererei“ sie mit unserer sexuellen Orientierung „anstecken“ würde. Oder Kinder! Die armen Kinder, für die wir wohl ein „schlechtes Vorbild“ sind. Ganz ehrlich, ich verstehe nicht, was an „Liebe“ ein schlechtes Vorbild für Kinder sein soll? Oh, wait! Vielleicht verstehe ich es ja doch, wenn ich daran denke, dass Politiker – hier bewusst generisches Maskulinum – kein Problem mit dem Schwulsein haben, solange es „nichts mit Kindern ist“.[5] Danke für diesen Bärendienst, Herr Merz! Danke, dass Sie männliche Homosexualität wieder mit Pädosexualität in Verbindung bringen. Es ist ja nicht so, dass ich bis ich zwölf Jahre alt war ständig zu Allah gebetet habe, er möge mich doch bitte „heilen“, bevor ich volljährig werde oder mich vorher umbringen. Denn dank der Medien war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich als männlicher Homosexueller nur zu einem Sexualstraftäter heranwachsen kann, der sich an Kindern vergreift. Positive Lebensentwürfe von homosexuellen Männern, die als Vorbilder dienen könnten, gab es ja in der Öffentlichkeit nicht.

Zum Glück haben sich die Zeiten geändert. Offen homosexuelle Menschen sind in fast allen Berufsfeldern zu finden und ich bin sehr dankbar dafür, dass es Protestaktionen wie Kiss-Ins vor homofeindlichen Restaurants[6] oder #AlleMannenHandInHand nach Angriffen auf schwule händchenhaltende Paare gab[7]. Trotzdem bleibt die Frage: Wie lange denn noch? Wann werden wir nicht mehr als eine Irritation in der Öffentlichkeit wahrgenommen, sondern als ein ganz gewöhnlicher Teil der Gesellschaft?

Safe Space für Mutant*innen

Nehmen wir mal an, ich hätte in der Tat übernatürliche Kräfte. Dann würde ich die Welt so ändern, wie in einer meiner Lieblingsübungen, die ich bei Empowerment-Seminaren für BIPoC anwende und die ich auch ab und zu selbst durchführe; wenn ich mich allein fühle, resigniert bin oder das Gefühl habe, dass wir nicht schnell genug vorankommen oder in den Nachrichten wieder der „daily Rassismus-Einzelfall“ proklamiert wird. Es ist das „Utopiespiel“:

Mensch schließt dabei die Augen und stellt sich vor, dass es ein neuer Morgen ist. Wir sind gerade aufgewacht und merken, dass es keinen Rassismus mehr auf der Welt gibt. Er ist verschwunden. Puff! Das ist schön, aber wie merke ich das denn? Was macht das mit mir? Wie fühlt sich das an? Wie äußert sich das in meinem Tagesablauf? Woran erkenne ich den Unterschied? Es ist eine Übung, die für mich sehr bestärkend ist, denn sie zeigt mir eine Zukunft, die ich wahrscheinlich nie erleben werde, aber eine Zukunft in der ich sehr gerne Leben würde – frei von rassistischen Mikroaggressionen, frei von institutionellem Rassismus, frei von rassistischen Klischees, frei von antimuslimischem Rassismus, frei von und und und …

Der Ort, den ich mir vorstelle, mein queerer safe space, funktioniert nach demselben Muster. Ich stelle mir vor, dass es ein brandneuer Tag ist und zusammen mit der aufgehenden Sonne ist auch Queerfeindlichkeit aus der Welt verschwunden. Ich spüre das an meinem Körper, meine Mundwinkel gehen nach oben, mein Rücken richtet sich auf und mir ist fröhlich nach Lachen zu Mute. Ich gehe händchenhaltend mit meinem Mann auf die Straße und schlendere durch den Park. Kein Mensch wirft uns komische Blicke zu, niemand tuschelt, fragt seine Freund*innen, sodass wir es auch hören können, wer von uns beiden wohl der Mann ist? Uns rufen keine Kinder schwulenfeindliche Beleidigungen hinterher.

Ich mache den Unterschied daran fest, dass ich mich nicht frage, ob wir wieder homofeindlichen Mikroaggressionen ausgesetzt sein werden, wenn ich die Hand meines Mannes in der Öffentlichkeit halte. Ich habe diese unsichtbare Alarmschicht nicht mehr, die ich draußen permanent aufrechterhalte und die Unmengen an Energie, Nerven und Aufmerksamkeit kostet, um queerfeindliches abzublocken, zu ignorieren und zu verdauen. Dieses Draußen, ein utopisches Draußen, ist ein Ort, an dem ich Menschen ansehen und sie anlächeln kann, während ich die Hand meines Mannes halte – und sie lächeln zurück.

Utopie Now?

Angeblich könnte ich diese Utopie jetzt schon haben, sagen manche Verwandte und Freund*innen. Einige rieten uns Anfang des Jahres mit echter Besorgnis und Mitgefühl: „Na ja, ihr müsst euch ja auch nicht in der Öffentlichkeit an der Hand halten. Es tut euch doch nur weh. Dann ist alles wieder ganz einfach und ungefährlich.“ Nun … es gibt eine Szene in dem Film X-Men 2 von 2003, in der Nightcrawler die Gestaltwandlerin Mystique fragt, warum sie nicht immer in Menschengestalt herumläuft, um nicht als Mutantin mit blauer Haut aufzufallen. Ja, warum nicht? Warum nicht einfach nebeneinanderlaufen? Warum nicht verneinen, wenn gefragt wird, ob wir ein Paar sind? Warum sich nicht zurückziehen? Warum sich nicht einfach verstecken? Warum nicht einfach die Haut wechseln? Um es in Mystiques Worten zu sagen: „Weil es nicht nötig sein sollte!“

Korrektorat: Aimée Ziegler-Kraska

Illustrationen: Oliver Hoogvliet


[1] Doğan, Aşkın-Hayat. 2020. URL: https://twitter.com/AskDoan1/status/1297827363561013250 (zuletzt aufgerufen am 15.05.2022).

[2] Pantisano, Alfonso: „SPD-Debatte um Diversität: Teil des großen Wirs“. 2021. In: taz. URL: https://taz.de/SPD-Debatte-um-Diversitaet/!5750919/; Hofmann, Inga: Lesbenfeindliche Vorfälle in Berlin: „Gewalt wird häufig bagatellisiert oder nicht als solche wahrgenommen“. 2021. In: Der Tagesspiegel. URL:  https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/lesbenfeindliche-vorfaelle-in-berlin-gewalt-wird-haeufig-bagatellisiert-oder-nicht-als-solche-wahrgenommen/27121550.html; Hoffmann, Inga: Homophobie und Transfeindlichkeit: Bundesweiter Anstieg der Angriffe auf queere Menschen. 2020. In: Der Tagesspiegel. URL: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/homophobie-und-transfeindlichkeit-bundesweiter-anstieg-der-angriffe-auf-queere-menschen/25529574.html (zuletzt aufgerufen am 15.05.2022).

[3] European Union Agency for Fundamental Rights: LGBTI Survey Data Explorer. 2019. URL: https://fra.europa.eu/de/data-and-maps/2020/lgbti-survey-data-explorer (zuletzt aufgerufen am 15.05.2022).

[4] Markus, Andreas: Fast jeder zweite Deutsche kritisch gegenüber Lesben und Schwulen. 2017. In: GGG.at. URL: https://www.ggg.at/2017/01/17/fast-jeder-zweite-deutsche-kritisch-gegenueber-lesben-und-schwulen/ (zuletzt aufgerufen am 15.05.2022).

[5] Spahn kritisiert Merz-Aussage über Sexualität von Politikern. 2020. In: Der Spiegel. URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/friedrich-merz-jens-spahn-kritisiert-aussage-ueber-sexualitaet-von-politikern-a-c3aeaf9f-398c-49be-aeda-3950dfede05d (zuletzt aufgerufen am 16.05.2022).

[6] Café’s ban on kissing Austrian lesbians sparks protest. 2015. In: BBC.com. URL: https://www.bbc.com/news/world-europe-30859606 (zuletzt aufgerufen am 06.05.2022).; Kiss-In bei Burger King. 2014. In: Queer.de. URL: https://www.queer.de/bild-des-tages.php?einzel=975 (zuletzt aufgerufen am 15.05.2022); Queeres Knutsch-Sit-In in Dresden. 2022. In: Queer.de. URL: https://www.queer.de/bild-des-tages.php?einzel=3783 (zuletzt aufgerufen am 16.05.2022).

[7] Markus, Andreas: Nach Angriff auf schwules Paar: So cool reagieren die Niederlande. 2017. In: GGG.at. URL: https://www.ggg.at/2017/04/04/nach-angriff-auf-schwules-paar-so-cool-reagieren-die-niederlande/ (zuletzt aufgerufen am 15.05.2022).