In jeder Gesellschaft gibt es „verbrannte Wörter“, die außerhalb ihres historischen Kontextes nicht verwendet werden sollten. Einige wie „völkisch“, „Rassenhygiene“, „nationalsozialistisch“ usw. sind im kollektiven Bewusstsein der deutschsprachigen Länder mit ihrer verheerend negativen Assoziation stark verankert, andere wie „asozial“ sind es nicht.
Über „sozial“ zu „asozial“
Das Wort „asozial“ entstand Ende des 19. Jahrhunderts, indem die negierende Vorsilbe „a-“ (griech. ἀ- privativum) vor dem Adjektiv „sozial“ gesetzt wurde. „Sozial“ an sich hatte sich als Entlehnung aus dem Französischem ab 1760 im deutschsprachigen Raum verbreitet:[1]
„sozial Adj. ‘das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft betreffend, gesellschaftlich, gemeinschaftlich, der Allgemeinheit verbunden’, auch ‘die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer bestimmten Klasse, Schicht, Gruppe in der Gesellschaft, seine wirtschaftliche Situation sowie die ökonomische und politische Struktur der Gesellschaft betreffend’. Entlehnung (18. Jh.) von frz. social, lat. sociālis ‘die Gesellschaft betreffend, gemeinschaftlich, gesellig’, abgeleitet von lat. socius ‘gemeinsam’ (s. Sozius).“[2]
Neben „unsozial“, „antisozial“ und „dissozial“ entstand „asozial“ als ein weiteres Antonym für „sozial“ und wurde in der Weimarer Republik recht schnell mit gesellschaftlich marginalisierten Menschengruppen in Verbindung gebracht:
„Unter dieser Benennung subsumierte man vor allem Landstreicher, arbeitsscheue Fürsorgeempfänger, mittellose Alkoholiker, Unterhaltsverweigerer und Frauen, bei denen man Prostitution vermutete.“[3]
Im Nationalsozialismus diente „asozial“ als Synonym für „volksfremd“, „gemeinschaftsgefährdend“ etc. Der Begriff wurde während der NS-Zeit nie klar definiert und diente dazu, Menschen mit Lebensweisen außerhalb des „gesunden Volkskörpers“ der NS-Ideologie auszugrenzen, einzusperren, zu foltern und zu ermorden. Mit dem Erlass „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ Ende 1937 wurden auch als „asozial“ bezeichnete Menschen in Konzentrationslager deportiert und trugen den schwarzen Winkel als Erkennungszeichen der Häftlingskategorie.
„Es waren hauptsächlich Bettler, Landstreicher und mittellose Alkoholkranke, in geringerer Zahl auch Zuhälter und Personen, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren (die säumigen Nährpflichtigen). Unter den Eingelieferten waren außerdem viele Roma und Sinti […] Gemeinsam war ihnen [den als asozial definierten KZ-Häftlingen] allenfalls, dass ihre Verfolger sie als arbeitsscheu ansahen. Wohnungslose Männer stellten die größte Gruppe. Bei den bald auch eingelieferten Frauen stand der Prostitutionsvorwurf im Mittelpunkt […]“[4]
Manche fielen der gezielten Tötungsaktion des „Euthanasieprogramms“ zum Opfer[5], tausende wurden durch „Vernichtung durch Arbeit“[6] getötet. In der DDR war bis zur Wiedervereinigung 1990 der „Asozialenparagraph“ genannte § 249 von 1968 gültig, der die „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ erläutert:
„Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, dass er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitution nachgeht oder wer sich auf andere unlautere Weise Mittel zum Unterhalt verschafft, wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Zusätzlich kann auf Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht erkannt werden.“[7]
Die Bezeichnung „asozial“ war in der DDR breit gefasst und traf vor allem junge Männer ohne Schulabschluss, aber sogar auch Menschen, die auf Kosten ihrer Verwandten ihr Leben führten. Ende der 70er Jahre erfuhr § 249 eine Verschärfung und ebnete den Weg für einige Verurteilungswellen.[8]
Und jetzt?
Viele Menschen hielten das Vorgehen der Nazis gegen die „Asozialen“ als eine der positiven Seiten des Nationalsozialismus und veranlassten dadurch, dass Betroffene vor Angst vor Stigmatisierung und Retraumatisierung ihr Leid verschwiegen. Auch auf staatlicher Ebene herrschte kein Unrechtsbewusstsein. Dem als „Berufsverbrecher“ in KZ deportierte Ernst Nonenmacher wurde zum Beispiel 1946 auf dem Landratsamt mitgeteilt, dass er nicht aus politischen, religiösen oder rassistischen Gründen verfolgt und daher zu Recht im KZ war.[9] Erst 2020 (!) erkannte der Bundestag die von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ bezeichneten Personen als Opfer des Nationalsozialismus an und gab an:
„Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet. Alle Konzentrationslagerhäftlinge waren am Ende Opfer des nationalsozialistischen Unrechtssystems – auch Menschen mit dem ‚schwarzen‘ und ‚grünen‘ Winkel.“[10]
Heutzutage wird „asozial“ recht häufig mit einem breiten Bedeutungsspektrum verwendet, auch wenn die Wissenschaft den Begriff als abwertend einschätzt. Doch „Um eine Person zu beschreiben, deren Handlungen oder Einstellung mensch für ‚nicht sozialkompatibel‘ hält, bieten sich eine Menge andere Bezeichnungen an.“[11]
„asozial“ als „ungesellig“
„Ich war ein sehr asoziales (= introvertiert, kontaktscheu) Kind. Ich habe sehr viel gelesen. Ich begriff schnell: Wenn ich keine Lust hatte, mit Freunden spielen zu gehen, musste ich mich einfach in ein Buch vertiefen. [Basler Zeitung, 28.12.2013]“[12]
Relativ selten wird „asozial“ als „außerhalb der menschlichen Gesellschaft, der sozialen Interaktion, der Öffentlichkeit o. Ä. stehend […]“[13] verwendet. Das heißt also für Personen, die eher im privaten gern für sich sind. Aussagen wie „Ich kann nicht (so gut) mit Menschen“, „Ich genüge mir selbst“ oder „Ich bin eine no-people Person“ schlagen in dieselbe Kerbe.
Manchmal wird „asozial“ in dieser Bedeutung auch für Orte und Tätigkeiten verwendet, die bestimmte zwischenmenschliche Interaktionen als beeinträchtigend ansehen:[14]
„Die E‑Mail ist nicht asozialer als klassisches Briefeschreiben, im Gegenteil. Sie rettet die schöne Tradition des Schriftwechsels ins nächste Jahrtausend.“[15]
Mögliche Alternativen je nach spezifischem Kontext:
distanziert, einsiedlerisch, eremitenhaft, eremitisch, für sich allein, introvertiert, isoliert, nicht gesellig, nicht sozial, sozial gehemmt, sozial isoliert, ungesellig, zurückgezogen, zurückhaltend, …
„asozial“ als „unsolidarisch“
„Reiche Menschen können es sich einfach leisten, eine Spur asozialer zu sein.“[16]
Öfter wird „asozial“ in einem Kontext verwendet, in der die Einstellung oder das Handeln einer Person als empathielos und unsolidarisch angesehen wird.[17] Das kann von Nicht-Beteiligung bei der Reinigung der eigenen WG bis zur fehlenden Reichensteuer oder den neoliberalen Argumenten gegen das bedingungslose Grundeinkommen betreffen.
Mögliche Alternativen je nach spezifischem Kontext:
egoistisch, empathielos, falsch, gemein, unredlich, ungerecht, unmoralisch, unlauter, unsolidarisch, unsozial, verwerflich …
„asozial“ als „unkultiviert“
„Was für ein asozialer Mensch. Der hat in seinem ganzen Leben sicher nicht ein einziges Buch aufgeschlagen!“
Laut dem Duden, betont diese Nutzung „ein niedriges geistiges, kulturelles Niveau aufweisend“.[18] Es kann sich zum Beispiel auf Fußball, Kneipen, Nachmittagsfernsehen, Reality TV, künstliche Fingernägel usw. beziehen, die angeblich dem „guten Geschmack“ der Idealvorstellung eines Bildungsbürgertums nicht entsprechen. Schwierig hierbei ist, wer „kultiviert“ und „unkultiviert“, „geistig gehoben“ und „unzivilisiert“ definiert. Je nach Definition haben Fußballfans auch ihre eigene Kultur und „Kneipenkultur“ ist nicht nur in der Soziologie etabliert.[19]
Mögliche Alternativen je nach spezifischem Kontext:
plump, primitiv, prollig, schlecht, schlicht, unerträglich, ungebildet, ungebührlich, ungehobelt, unkultiviert, unzumutbar …
„asozial“ als Charaktermerkmal
Bei dieser Nutzung handelt es sich nicht um eine „asoziale“ Einstellung oder ein Verhalten, sondern die „Asozialität“ sei unvermeidlich mit dem Charakter der so Bezeichneten verbunden. Im Sinne der Nationalsozialisten wird hier einem Menschen „Asozialität“ samt den Konnotationen „Arbeitsscheu“, „Schmarotzertum“, „Amoralität“ usw. in Leib, Blut und Genen zugeschrieben. In Realität handelt es sich um marginalisierte Menschen, deren
„Vorstellungen, Normen, Regeln der Mehrheitsgesellschaft in Hinsicht auf Lebenswandel, Arbeitsethos, Substanzkonsum, soziales Verhalten usw. nicht entsprechen […]“[20]
Und die daher einer sozialen Randgruppe zugeordnet werden. Es betrifft Menschen, die unter anderem von Klassismus, Queerfeindlichkeit, Rassismus usw. betroffen sind und soziale Ausgrenzung erfahren. Hierbei sollte der Fokus nicht auf einer vermeintlichen Selbstverschuldung der Lebenssituation liegen, sondern auf die gesellschafspolitischen Strukturen, die diese Menschen in die Marginalisierung treiben.
Mögliche Alternativen je nach spezifischem Kontext:
einer Randgruppe zugehörig, marginalisiert, randständig, von -Ismus betroffen, …
„asozial“ als Persönlichkeitsstörung
Geht es tatsächlich um eine medizinische Diagnose, sind die beiden Begriffe dissozial und antisozial im Gebrauch.
„Antisoziale Persönlichkeitsstörung [engl. antisocial personality disorder], (F60.2 Dissoziale Persönlichkeitsstörung), [KLI], nach DSM-IV ist die Diagnose bei Personen über 18 Jahren zu stellen, deren gestörtes Sozialverhalten (Störungen des Sozialverhaltens) bereits vor Vollendung des 15. Lebensjahres erkennbar war. Im Zentrum der Störung stehen die völlige Missachtung der Rechte anderer, verantwortungsloses, antisoziales Verhalten sowie das Fehlen von Scham und Reue. Impulsivität, Reizbarkeit und Aggressivität können als weitere Merkmale hinzukommen.“[21]
„asozial“ als Selbstbezeichnung
„Im Unterschied zu Begriffen wie ‚schwul‘ oder dem englischen Wort ‚queer‘ haben die Ausdrücke keine positive Umdeutung und Aneignung durch die so Bezeichneten erfahren. Da sich die als ‚Asoziale‘ […] verfolgten Menschen selbst nicht als Gruppe begriffen, existieren auch keine alternativen Selbstbeschreibungen, wie sie beispielsweise von den Sinti*zze und Rom*nja bekannt sind.“[22]
Es gibt einige Ausnahmen wie in Songs von Bushido, Killermichel und der Band Toxoplasma, in denen „asozial“ als Selbstbezeichnung verwendet wird – und darüber lässt sich streiten. Der Rapper Finch nannte sich bis vor einigen Jahren selbst „Finch Asozial“. Außerhalb von ironischen Selbstzuschreibungen, bezeichnet sich niemand „selbst als asozial. Der Begriff ist eine von anderen benutzte extrem abwertende Zuschreibung, die mit Stigmatisierung und Ausgrenzung verbunden ist.“[23]
⇒ SR-Files ist eine Reihe, die sich kurz und knapp mit Fragen zum Sensitivity-Reading auseinandersetzt. Anregungen, Wünsche und Kommentare sind willkommen! 😊
Lektorat: Victoria Linnea
Sensitivity-Reading: Beccs Riley
Illustration: Oliver Hoogvliet
[1] Heine, Matthias: Verbrannte Wörter: Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht. Berlin: Dudenverlag, 2019, S. 38.
[2] „asozial“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache. URL: https://www.dwds.de/wb/asozial (zuletzt aufgerufen am 26.03.2025).
[3] Ayaß, Wolfgang: „Asozial“: Aufstieg und Niedergang eines Kernbegriffs sozialer Ausgrenzung. Berlin: Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., 2023, S. 13.
[4] Ebd., S. 24.
[5] Vgl. Hörath, Julia: Die KZ-Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« bzw. »Berufsverbrecherinnen« im Nationalsozialismus. Rechtliche Konstrukte und kriminologische Diskurse. In: Nonnemacher, Frank (Hrsg.): Die Nazis nannten sie »Asoziale« und »Berufsverbrecher«: Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2024, S. 78.
[6] Ebd., S. 58.
[7] Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik – StGB – vom 12. Januar 1968. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I Nr. 1.22. Januar 1968, S. 44.
[8] Vgl. Ayaß, S. 25-31.
[9] Nonnenmacher, Frank: Verfolgt, verachtet, verleugnet – vor und nach 1945. In: Ders. (Hrsg.): Die Nazis nannten sie »Asoziale« und »Berufsverbrecher«: Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2024, S. 14.
[10] Anerkennung der von den Nationalsozialisten als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten (BTDS 19/14342). 2020. URL: https://dserver.bundestag.de/btd/19/143/1914342.pdf (zuletzt aufgerufen am 26.03.2025).
[11] Sow, Noah: Asi. In: Arndt, Susan & Nadja Ofuatey-Alazard (Hrsg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht – (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster, UNRAST Verlag, 2011, S. 682.
[12] „asozial“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Albers, Markus: Sie haben Post. 2001. In: Welt am Sonntag. URL: https://www.welt.de/print-wams/article616163/Sie-haben-Post.html (zuletzt aufgerufen am 26.03.2025).
[16] Szigetvari, András: Psychologe: „Reiche können es sich leisten, asozialer zu sein“. 2012. In: DER STANDARD. URL: https://www.derstandard.at/story/1353208266619/psychologe-reiche-koennen-es-sich-leisten-asozialer-zu-sein (zuletzt aufgerufen am 26.03.2025).
[17] Vgl. „asozial“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache.
[18] https://www.duden.de/rechtschreibung/asozial (zuletzt aufgerufen am 26.03.2025).
[19] Ich danke Victoria Linnea für die Anmerkung zur ambivalenten Nutzung des Begriffs „Kultur“.
[20] Vgl. „asozial“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache.
[21] Antisoziale Persönlichkeitsstörung. In: Dorsch – Lexikon der Psychologie. URL: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/antisoziale-persoenlichkeitsstoerung (zuletzt aufgerufen am 26.03.2025).
[22] Hörath, S. 53.
[23] Ayaß, S. 5.