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Was ist Sensitivity Reading? Ein Blitzüberblick!

Lars ging unauffällig die breiten Stufen, auf denen eine afrikanische Familie genüsslich Himbeereis verputzte, zur Moschee hoch und trat hinein. Wo könnte er sich denn besser vor den Augen der beiden Araber verstecken, die ihm ganz bestimmt nichts Gutes wollten? Er schlich geduckt durch die Menge der betenden Männer und Frauen und kam erst zu Atem, als er sich hinter dem Podest versteckte, auf dem der Imam aus dem Koran rezitierte. Er fühlte, wie seine Socken in den Chucks wie zu einer zweiten Haut geworden waren, so hart wie zähes Trockenfleisch. Still zog er sich das nassgeschwitzte T-Shirt aus, drehte es auf links, sodass der WACKEN-Aufdruck verschwand und er nur noch ein ‚schwarzes‘ T-Shirt anhatte. Die monotone Rezitation des Imams ließ ihn einen Moment in sich zusammensacken und die Erschöpfung Oberhand gewinnen. Er ärgerte sich! Gott, wie ärgerte er sich! Was hatte ihn dazu geritten, sich mit dem größten Mafiaboss von Saudi-Arabien einzulassen und was zur Hölle hatte er überhaupt in diesem Land verloren? Bevor er sich weiter in Gedanken schelten konnte, hatten die Araber ihn entdeckt. Verdammt, warum hatte er nicht mitbekommen, wie sie reingekommen waren? Lars spurtete los, mit den Arabern dicht auf den Fersen. Hätte er doch bloß etwas mehr in der Sonne gelegen, dann hätten die Typen ihn sicher in der Menge nicht sofort ausfindig machen können. Vielleicht wäre es auch an der Zeit, sich von seinen liebgewonnenen blonden Dreadlocks zu trennen.“

Schauen wir uns diesen überspitzten Abschnitt, den ich in ähnlicher Form – zugegeben ohne Wacken-Shirt und Dreadlocks – schon zu lesen bekam, näher an:

  • Wer sind diese „Araber“? Kann man nicht annehmen, dass die meisten Bewohner*innen Saudi-Arabiens Araber sind? Warum muss betont werden, dass es sich bei den beiden Verfolgern explizit um Araber handelt? Hätte man nicht einfach Saudis, Männer, zwielichtige Typen, Gangster o. ä. nehmen können? Nehmen wir mal an, dieser Roman würde in England spielen und Lars hätte sich während der Sonntagsmesse in einer Kirche versteckt. Würde es auch Sinn machen zu schreiben, die Engländer hätten ihn gefunden? Oder wenn der britische Geheimagent James Bond in Berlin einen Fall auflöst und von seinen Antagonist*innen und deren Scherg*innen stets als „Europäer“ oder „Deutschen“ spricht – während seine lokalen Helfer*innen und Bond-Girls eventuell auch Deutsche sind? Hier kommt eine unnötige Reduktion auf die Ethnie zustande: Es ist selbstverständlich, dass die in Saudi-Arabien agierenden Handlanger eines saudischen Mafioso Araber sind. Es wäre erst dann interessant und eventuell wichtig zu erwähnen, wenn sie weiße Schweden, Russen oder Franzosen wären, weil sie erst dann in der lokalen Menge – insbesondere in der Moschee – optisch hervorstechen würden.
  • Was bedeutet in diesem Kontext „afrikanische Familie“? Tragen sie T-Shirts, auf denen „We are from Africa“ steht? Ist hier die Rede von Ägypter*innen oder Südafrikaner*innen? Oder versucht man hier einen Umweg zu gehen, indem man „afrikanisch“ mit schwarzer Hautfarbe gleichsetzt? Und falls ja, wieso ist es nötig, dass diese völlig nebensächliche eisessende Familie eine andere ethnische Zuordnung bekommt?
  • Dazu gesellen sich noch etliche Fragen bezüglich des islamischen Glaubens, die entweder auf mangelnde Recherche oder Unkenntnis fußen: In welcher Moschee in Saudi-Arabien beten Frauen und Männer zusammen? Was soll das für ein Podest sein, auf dem der Imam rezitiert? Und wer betritt ein muslimisches Gotteshaus überhaupt mit Schuhen – und wird nicht darauf hingewiesen, falls doch?

Das sind Beispiele, die ein Sensitivity Reader anmerkt. Kurz gefasst kann man auch sagen, dass Sensitivity Reading dafür da ist, ungewollt produzierten Bullshit wie diskriminierende Stereotype zu verhindern – sei es in Romanen, Artikeln, Fernsehserien, Rollenspielen oder Presseerklärungen.

Wozu ist das gut?

Sensitivity Reading ist eine aus dem Englischen übernommene Bezeichnung und steht für einen Schritt im Überarbeitungsprozess eines Werkes vor der Veröffentlichung. Ähnlich wie beim Lektorat, Korrektorat oder einem thematischen Faktencheck, werden sensible Themen unter die Lupe genommen: 

„Sensible Themen sind solche, deren falsche Darstellung negative Auswirkungen auf die Betroffenen haben. Schreibt man über andere Lebensweisen (Menschen verschiedener Herkunft oder Communitys), ist es nicht ungewöhnlich, dass aus Unkenntnis ein falsches Bild vermittelt wird. Dadurch werden Vorurteile oder Stigmatisierungen reproduziert und verfestigt.“[1]

Als erste Orientierung rate ich immer, sich selbst zu fragen, welche Diversitätsmerkmale einer Figur beim vorliegenden Werk problematisch sein können. Ich verwende dafür als grobe „Checkliste“ das Diversityrad, das von den Unternehmensberaterinnen Marilyn Loden und Judy B. Rosener entwickelt wurde.[2] Dabei werden die Merkmale in eine äußere und eine innere Dimension eingeteilt (siehe Bild). Stelle ich die sexuelle Orientierung des Charakters wirklich nicht klischeehaft dar? Verhalten sich Buddhist*innen aus Guatemala genauso wie die aus Tibet? Sollen asiatisch gelesene Figuren alle nur mit einer Kamera herumlaufen und alles fotografieren, was sie sehen? Würde ein autistischer Mensch sich wirklich so verhalten?

Ein sehr verbreitetes Beispiel ist es, Sympathieträger*innen in einer unwichtigen Szene nebenbei sexistische oder rassistische Wörter in den Mund zu legen, ohne dabei die Tragweite für bestimmte Leser*innen mitzudenken. In einem Buch, wo auch Polizist*innen eine tragende Rolle haben, können sich die migrantischen Verdächtigen untereinander vielleicht „Kanacke“ nennen. Aber die weißen Polizist*innen sollten es nicht tun und auch das N-Wort nicht verwenden, wenn sie den Fall unter sich besprechen – es sei denn, die Autor*innen wollen die Polizist*innen als unsympathische Figuren darstellen – was in 90 % der Fälle leider nicht beabsichtigt ist. Genauso auch heranwachsende Jugendliche in einem Young-Adult-Roman, die das Wort „schwul“ als negatives Label für alles von nervigen Hausaufgaben bis schlechten Computerspielen verwenden, ohne dass diese Wortwahl im Roman als nicht in Ordnung thematisiert wird – und die Person zugleich den angeschmachteten Schwarm der Protagonistin darstellt. Ein Beispiel sind auch gute Absichten, die total nach hinten losgehen können, wie eine nicht realisierte Broschüre, die ich ebenfalls als Auftrag bekam. „Kita statt Knast“ hieß das Motto und sollte mehrsprachig als Werbekampagne in migrantischen Milieus dienen, damit Menschen mit Migrationsgeschichte ihre Kinder in Kitas einschreiben. Dieser frühe Sozialisations- und Integrationsschritt würde sie angeblich in ihrem späteren Leben vor dem Gefängnis bewahren.

Wie läuft das ab?

Als allererstes muss man die Bereitschaft aufbringen, eine*n Sensitivity Reader*in zu beauftragen. Halten wir nochmal fest:

„Sensitivity Reading ist im Prinzip ein Schritt des Lektorats, in dem es insbesondere um die Darstellung von Gruppen geht, die Diskriminierungserfahrungen machen. Ein*e Sensitivity Reader*in ist eine Person aus der entsprechenden Gruppe, die das Manuskript auf authentische Repräsentation sichtet und ggf. Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge macht. Das ist insbesondere dann gewinnbringend, wenn der*die Autor*in über Erfahrungen schreibt, die er*sie selbst nicht macht.“[3]

Der zweite Schritt ist die Suche nach einer oder – je nach Themen – nach mehreren Personen, die aus den marginalisierten Gruppen sind. Erste große Anlaufstelle im deutschsprachigen Raum ist dafür die Sensitivity-Reading-Website, auf der deutschsprachige Sensitivity Reader*innen je nach Themenbereichen aufgelistet sind. Ist ein*e passende*r Sensitivity Reader*in gefunden, kann die Kommunikation mit der Anfrage beginnen. Hierbei ist es meist egal, ob es sich um ein komplettes oder ein partielles Sensitivity Reading beim fertig ausformulierten Werk handelt, oder um eine Beratung, bevor die Schreibphase begonnen hat[4] – Hauptsache, es ist vor der Veröffentlichung!

Das brauche ich nicht!

Wer sollte Sensitivity Reading in Anspruch nehmen? Jede Person, die es ihrer Meinung nach für das eigens produzierte Werk für nötig hält. ABER: Genauso gut wie jede*r Autor*in das Recht hat, schlecht zu recherchieren, Senegal als ein asiatisches Land darzustellen, 2 + 2 zu 7 zu erklären oder ein Korrektorat für das Buch nicht in Erwägung zu ziehen, kann man auch ganz gut auf Sensitivity Reading verzichten. Insbesondere, wenn man Sensitivity Reading nicht als ein Hilfsmittel zur authentischen und sensiblen Darstellung von bestimmten Themen und Personen betrachtet, sondern es lächerlich findet, ihre Befürworter*innen für überempfindliche Schneeflöckchen hält, sich über sie lustig macht, sie als Sprachpolizei und Verfechtende der Kreativitätszensur betrachtet, die einem das Recht der freien Schreibäußerung verwehren wollen. Allerdings sollte man dann auch in Kauf nehmen, nach der Veröffentlichung wegen falscher, fehlerhafter oder ungewollt schädlicher Repräsentation von Marginalisierten kritisiert zu werden. Michael Ende kann jetzt keine Stellung dazu nehmen oder versöhnlich darüber kommunizieren, warum er das N-Wort in „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ verwendet hat. Aber Lisa Eckhart[5] und Sarah Kuttner[6] hätten sich den Eklat mit dem N-Wort sparen können … hätten sie es nur gewollt.

Korrektorat: Aimée Ziegler-Kraska

Illustrationen: Oliver Hoogvliet


[1] Sensitivity Reading 101. In: Sensitivity Reading. URL: https://sensitivity-reading.de/sensitivity-reading-101 (Zuletzt aufgerufen am 10.08.2020).

[2] Loden, Marilyn & Judy B. Rosener: Workforce America! Managing Employee Diversity as a Vital Ressource. McGraw Hill: USA, 1991.

[3] Kavadar, Elif: Was ist Sensitivity Reading? Und wie können es Autor*innen nutzen? 2019. In: TOR Online. URL: https://www.tor-online.de/feature/buch/2019/08/was-ist-sensitivity-reading/ (Zuletzt aufgerufen am 10.08.2020).

[4] Mehr über die drei Sensitivity-Reading-Varianten erfahren Sie in: Was machen Sensitivity Reader? In: Sensitivity Reading. URL: https://sensitivity-reading.de/was-machen-sensitivity-reader (Zuletzt aufgerufen am 10.08.2020).

[5] Weiss, Stefan: Kabarettisten erklären, warum sie das N-Wort verwenden. 2018. In: DER STANDARD. URL: https://www.derstandard.de/story/2000087752157/das-n-wort-im-kabarett-spiegel-der-gesellschaft-oder-tabubruch (Zuletzt aufgerufen am 10.08.2020).

[6] Brenner, Jochen: Im Auge des Shitstorms. 2012. In: DER SPIEGEL. URL: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/bei-einer-lesung-von-sarah-kuttner-faellt-das-wort-negerpuppe-a-834695.html (Zuletzt aufgerufen am 10.08.2020).