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Monstranz abzugeben – Reichsflaggen am Bundestag!

Etwas ist kaputt gegangen! Ich kann nicht mal genau benennen, was. Es fühlt sich wie ein Riss in meinem Inneren an, als ob ein Teil meines Körpers fehlt oder das Knochenmark aus meinen Knochen herausgesogen wurde. Als ob irgendwas Unsichtbares blutet. Ich habe seit Ewigkeiten mal wieder Angst, auf die Straße zu gehen. Alles fühlt sich anders an: die Luft, die Stadt, die Menschen. Es ist, als hätte man völlig unerwartet und aus absolut unverständlichen Gründen mit mir per WhatsApp Schluss gemacht – ich verstehe die Welt nicht mehr. 

„Wovor genau hast du Angst?“, fragt mich mein Mann. Ich weiß es nicht. Es ist so, als hätte es nichts gebracht, sich das ganze Wochenende in der Wohnung einzuschließen und Serien zu bingewatchen! Am Montag ist die Welt doch noch mit aller Wucht auf uns herabgedonnert. Mir ist schlecht und ich möchte am liebsten schreien! Es fühlt sich an als ob … als ob … nun ja, als ob Rechtsextremisten im 21. Jahrhundert Reichsflaggen vor dem Bundestag geschwenkt haben. Ein verstörend absurder Albtraum!

Ich sitze im Café und schaue mir die Passant*innen an. Zuhause habe ich es nicht ausgehalten. Die Fluchtreaktion trieb mich hinaus, an Konzentration auf die Arbeit war gar nicht zu denken. Eigentlich müssen Kurzgeschichten lektoriert, Workshops konzipiert und Texte geschrieben werden. Aber mein Bauch schrie: „Raus hier!“ Vielleicht kann ich einkaufen, zur Post gehen und durch die Straßen laufen. Doch irgendwie bekomme ich keine Luft und das liegt nicht nur an der Maske auf meinem Gesicht. Ich fühle mich gerade unter Menschen nicht wohl. Jetzt im Café kann ich atmen und seufzen und sogar den Schmerz zulassen, doch die Passant*innen sind auch hier. Wer von ihnen war wohl Samstag auf der Demo? Das Pärchen drüben im Café, der Typ in den Handwerkerhosen oder die Frau im Batik-T-Shirt? Wer hat kein Problem damit, auf einer Demo Schulter an Schulter mit Nazis und Rechtsextremen zu marschieren? Es ist, als würde sich alles auf einmal hinter einem diffusen Filter abspielen – oder genau im Gegenteil, als wäre so ein einlullender Filter auf einmal verschwunden und die nackte Wahrheit wäre verstörend grell. Mir ist übel! Ich verstehe mein Land nicht mehr.

Aber die Angst …

Ich habe Angst, weil ich mich vor dem fürchte, was noch sein kann. „Mal nicht den Teufel an die Wand!“, sagen einige. „Das sind doch nur ein paar Idioten!“, sagen andere, und rechtsextreme Gruppierungen feiern ihren Erfolg als Meilenstein in ihrem „Widerstand“ auf den sozialen Medien. Hätte sich das irgendjemand vor zehn Jahren vorstellen können? Ich nicht!

Ich hätte mir auch nie vorstellen können, was mit Syrien passiert ist. Ich hätte mir auch nie vorstellen können, dass die EU seit Jahren Geflüchtete an ihren Grenzen ertrinken lässt. Ich hätte mir auch nie vorstellen können, dass ein buddhistischer Mönch gegen muslimische Menschen hetzt[1], ich hätte mir auch nie vorstellen können, dass unser Nachbarland LGBTI-freie Zonen deklariert[2]. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass man in Deutschland keinen Job bei der Polizei bekommt, weil man linken Journalist*innen in den sozialen Medien folgt[3] oder ein homosexueller Diplomat Werbung für eine zweite Amtszeit für einen rassistischen, frauenverachtenden Mann macht, der Rechte von trans Menschen mit Füßen tritt[4]. Ich konnte mir so, so, so vieles nicht vorstellen … was hatte ich doch eine beschissen beschränkte Fantasie! JETZT allerdings, kann ich mir leider Gottes eine Menge vorstellen!

Begreifen des Unfassbaren?

Wie die meisten Menschen, die sich einigermaßen mit dem Holocaust beschäftigen, habe ich auch nach Antworten gesucht: „Wie konnte das passieren?“, „Wie konnte es soweit kommen?“ Jede weitere Beschäftigung damit ließ mich nur noch ratloser und verwirrter zurück, weil ich es nicht fassen konnte. KZ-Besuche, Gespräche mit Zeitzeug*innen, Memoiren, Bücher, Filme – egal was ich besucht, was ich gelesen, mit wem ich geredet habe. Es war und bleibt unfassbar. Unfassbar, wie Menschen den Nationalsozialismus und seine Gräuel tolerieren und sogar rechtfertigen konnten – oder noch können. Unfassbar, wie das in Goethes aufgeklärtem Deutschland dazu kommen konnte. So langsam bekomme ich eine Ahnung davon.

Gestern habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, Deutschland zu verlassen. Ich habe Angst und muss irgendwann vielleicht raus aus diesem Land. Was ist, falls es schlimmer wird? Was ist, falls wir hier auch Zonen wie in Polen bekommen, die frei von bestimmten marginalisierten Personen zu sein haben? Was passiert mit mir als Moslem? Was passiert mit mir als Homosexuellem? Was passiert mit mir als Person of Color? Werden die Regenbogen- und Libanonflaggen, die am Wochenende neben den Reichsflaggen in der Menge flatterten, auch dann noch zu sehen sein? Oder werden die Rosa Winkel[5] ein Revival erleben? „Wehret den Anfängen“ möchte ich sagen – doch den Punkt haben wir anscheinend schon hinter uns und sind mittendrin, denn wie Sascha Lobo sagt: „Plötzlich akzeptieren Leute, die das vorher nicht von sich gedacht hätten, dass sie im Notfall gemeinsam mit Nazis auf die Straße gehen, wenn es um die größere Sache geht.“[6]

Mi Monstranz es su Monstranz?

Ein weißer cis hetero Freund hat vor einigen Monaten bei einer Diskussion auf Facebook gepostet, dass eine andere Religion, eine andere Hautfarbe, eine andere sexuelle Orientierung einen Menschen nicht besser als andere macht und er das Gefühl hat, dass manche ihre Marginalisierungen wie eine Monstranz vor sich hertragen – eine Art Selbstbetroffenheits-Marketingstrategie in den medialen Aufmerksamkeitsmärkten. Eine Aussage aus privilegierter Sicht, die mich traf. Es ist wie ein Vorwurf, der Überlebenden von sexueller Gewalt entgegengebracht wird, dass sie aus ihren „Erfahrungen“ Profit schlagen wollen, weil sie ein Buch darüber schreiben, Aufklärungsworkshops darüber geben oder Beratungsstellen für Personen gründen, die dasselbe Schicksal ereilt hat. Oder Frauen vorzuwerfen, die sich für Frauenrechte einsetzen oder Geflüchteten, dass sie sich für Geflüchtete einsetzen. Eine Monstranz, die ich mir lange Jahre gerne aus der Haut rausgekratzt hätte, wenn ich angab, ich wäre Russe, Spanier oder Atheist, um nicht als Türke oder Moslem gelesen oder marginalisiert zu werden. Oder mich jedes Mal bei jeder neuen Person die ich kennenlerne – sei es beruflich  oder privat – abwägen muss, ob ich meine sexuelle Orientierung offen aussprechen kann oder es lieber sein lassen sollte, um keine negativen Konsequenzen wie Rufmord im potentiellen Arbeitgeber*innenkreis, Mikroaggressionen, direkten Beleidigungen oder körperlicher Gewalt ausgesetzt zu werden. Ich hätte diese Monstranz, um die ich nicht gebeten habe, viele Jahre aus tiefstem Herzen zerstört gesehen. Und es gibt Momente, in denen ich so verdammt gerne mit diesem Freund tauschen würde. Momente, in denen ich nicht darüber nachdenken will, wegen wie vielen Marginalisierungsmerkmalen Menschen mir gegenüber Hass empfinden. Momente, in denen ich mich fürchte. Momente, in denen Reichsflaggen vor dem Bundestag geschwenkt werden.

Korrektorat: Aimée Ziegler-Kraska

Illustration: Oliver Hoogvliet


[1] Oliver, John: Facebook. 2018. In: Last Week Tonight with John Oliver. URL: https://youtu.be/OjPYmEZxACM?t=431 (zuletzt aufgerufen am 01.09.2020).

[2] Warnecke, Tilmann: „LGBT-freie Zonen“ in Polen. 2020. In: Der Tagesspiegel. URL: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/lgbt-freie-zonen-in-polen-man-kann-hier-einfach-nicht-offen-schwul-sein-ich-musste-wegziehen/25671584.html (zuletzt aufgerufen am 02.09.2020).

[3] Bayern: Polizei lehnt Bewerber wegen Sympathie für Anti-IS-Miliz YPG ab. 2020. In: junge Welt. URL: https://www.jungewelt.de/artikel/380252.bayern-polizei-lehnt-bewerber-wegen-sympathie-für-anti-is-miliz-ypg-ab.html (zuletzt aufgerufen am 02.09.2020).

[4] Klein, Dennis:„Donald Trump ist der schwulenfreundlichste Präsident in Amerikas Geschichte“. 2020. In: Queer.de. URL: https://www.queer.de/detail.php?article_id=36875 (zuletzt aufgerufen am 02.09.2020).

[5] Zinn, Alexander: Die Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus. URL: http://www.rosa-winkel.de (zuletzt aufgerufen am 01.09.2020).

[6] Lobo, Sascha. URL: https://www.instagram.com/tv/CEWzR7hnXXs/?igshid=1ctqe0dmosvg7 (zuletzt aufgerufen am 01.09.2020).